Predigt Mai 2014

Queergottesdienst am 18.05.2014, St. Johanniskirche Nürnberg

Predigt zu Johannes 9, 1-41

Liebe Queergemeinde, liebe Besucherinnen und Besucher,

es gibt Wörter, die erhalten neben ihrer eigentlichen Bedeutung noch eine zweite dazu. Das bekannteste Besipiel ddafür ist das Wort "geil". Bis etwa zum Anfang der Achtziger Jahre war "geil" ein Tabuwort und bezeichnete etwas Triebhaftes, Ungestümes, auf jeden Fall sexuell Zügelloeses. Im Laufe der Jahre hat sich über die Jugendsprache eine zweite Bedeutung für "geil" etabliert. "Geil" war nunmehr alles, was aufregend, modern, schräg, lustig oder sonstwie attraktiv und auffällig war.

Bis zum Abend des 10. Mai 2014 bezeichente man eine gewürzte Fleischmasse, die in einen Tierdarm gefüllt wird und in Scheiben geschnitten mit Brot serviert wird, als "Wurst". Doch seit dem 10. Mai assoziiert fast jeder in ganz Europa – wohlgemerkt: auch die nicht-deutschsprachigen Europäer -  mit dem Begriff "Wurst" die Drag Artistin Conchita Wurst, die in aufregender Weise den ESC Song Contest gewonnen hat.

Der 25-jährige Tom Neuwirth aus der steirischen Provinz ist zugegebenermaßen ein mäßig begabter Sänger; das Lied "rise like phoenix" hört sich zugegebenermaßen wie eine schlechte Imitation eines James Bond Songs an. Das Laser- und Feuerwerksgewimmel  in dem Beitrag war mittelmäßiger und weitaus konventioneller als z.B. Im slowenischen Beitrag. Und trotz alledem hat Conchita Wurst gewonnen. Warum eigentlich? Nicht nur deswegen, weil Tom Neuwirth schwul ist, oder weil Conchita Wurst eine Travestiefigur ist. Nein, hauptsächlich deswegen, weil Conchita Wurst eine Travestiefigur mit Bart ist. Das stellt eine gewagte Bewegung hin zur Grenze des guten Geschmacks dar. - für viele sogar ist damit die Grenze bereits weit überschritten. Schwule Travestiekünstler giebt es tausende, aber einen schwulen Travestiekünstler mit schwarzem Bart gibt es nur einmal. Ich schätze mal, daß die Tatsache, daß sie einen Bart trägt, mindestens zur Hälfte dazu beigetragen hat, daß sie den 1. Platz gemacht hat. Der Grund für ihren Sieg ist nämlich vielmehr, daß die Menschen in Europa ein Zeichen setzen wollten. Die Menschen wollten mit ihrem Votum für Frau Wurst zeigen: wir sind tolerant, wir sind weltoffen, wir wagen uns an die Grenzen des guten Geschmacks und sogar darüber hinaus. Das Zeichen Setzen hat Tradition beim ESC, früher "Grand Prix der Eurovision" genannt. 1982: ein braves Mädchen im Kleidchen bearbeitet eine weiße Gitarre und singt "Ein bißchen Frieden". Mitten in der Hochphase des Kalten Krieges zwischen Ostblock und Nato, täglich drohendem Atomkrieg, Stationierung von Pershing II Raketen in Westedeutschland und SS 20 Raketen in Ostdeutschland und Millionen von Friedensdemonstranten singt ein bislang unbekanntes Mädchen aus einer Kleinstadt im Saarland  eine Melodie, die von der musikalischen Qualität nur wenig mehr hat wie "alle meine Entchen" und gewinnt. Wäre die Gitarre braun gewesen und hätte sie statt " Ein bißchen Frieden" z.B. "ein bißchen Urlaub" gesungen, wäre sie vermutlich auf dem vorletzten Platz gelandet. Oder 2006: die finnischen Gruselrocker Lordi landen auf dem 1. Platz mit einem Song, der weder von der Komposition her noch von der musikalischen Virtuosität der Künstler besonders hervosrsticht. Aber die Horrormasken und der kehlige Gesang haben den Ausschlag gegeben: die Menschen wollten auch hier ein Zeichen setzen; und zwar dafür: wir krempeln euren Schlagerfutzi Kult gehörig um, wir haben endgültig genug von dem ausdruckslosen, inhaltsbefreiten Herz-Schmerz Gesäusel, wir wollen einfach nur das andere Extrem.

Auch Jesus hat in unserer heutigen Geschichte ein Zeichen gesetzt. Er hat ein Zeichen dafür gesetzt, daß die Menschen glauben  m ü s s e n , daß er wirklich Gottes Sohn ist. Dazu mußte er natürlich provozieren und damit die Menschen zum Nachdenken anregen. Er hätte ja genauso gut noch einen Tag warten können, bis der geheiligte Sabbat vorbei ist. Das hätte den Blindgeborenen ja ebenso gut weiter geholfen. Und er hätte ja nicht gerade einen Blindgeborenen heilen müssen, er hätte ja auch ein gutes Werk getan, hätte er einen in seiner Sehkraft eingeschränkten Menschen durch irgendeine Art und Weise zu einer besseren Sehleistung verholfen. Dann hätte wohl keiner der Schriftgelehrten und der Pharisäer Anstoß an dem Geschehen genommen. Aber nein, es mußte mal wieder die ganz große Nummer sein! Die große Show! So daß sich auch der Besonnneste unter den Pharisäern in Empörung und in "Das-geht-jetzt-aber-wirklich-zu-weit"-Kommentaren ergeht. Nur so konnte Jesus bei den frommen Pharisäern, den Hütern des äußerst umfangreichen Gesetzeswek der Juden, erreichen, daß sie immerhin am Ende die Frage stellen mußten: "Sind etwa auch  w i r  blind?" Allein durch diese Frage ziehen sie die Möglichkeit in Betracht, eben nicht in einer herausgehobenen Stellung zu sein, sondern genauso Sünder und der Seelenrettung Bedürftige zu sein wie jeder andere Mensch auch. Jesus treibt das sogar noch auf die Spitze: er stellt ihnen wenig Chancen auf Rettung zu, weil sie ja nicht blind sind, sondern gerade deswegen,  w e i l  sie sehend sind. Die weitere Provokation steckt in dieseer Aussage darin, daß nach der damaligen Vorstellung der Blinde bzw. dessen Eltern eine schwere Sünde bgangen haben müssen, denn sonst hätte Gott ihn ja nicht mit Blindheit bestraft. Und jetzt nicht nur damit genug, daß der Blinde wieder sehend wird, nein: den sehend Geborenen wird die Sünde und die Verdammnis zugeschrieben.

Kommen wir wieder zu Frau Wurst zurück: welcher Politiker, Journalist o.ä. traut sich jetzt noch öffentlich zu sagen, daß ein Transvestit mit Bart  inakzeptabel ist? Das trauen sich heute lediglich Politiker aus Russland und den angrenzenden Ländern, die bekannt für ihre homophoben Gesetze sind und die nun  aufgrund der immer mehr Einzug haltenden Dekadenz beim ESC sich von diesem verabschieden wollen und einen eigenen Songwettbewerb ausrichten wollen; einen anständigen und braven, so wie er bei uns früher war. Aber wollen wir trotzdem festhalten: Tom Neuwirth verfolgte ja durch seinen Auftritt keine Mission, das sagt er selber in einem Interview, er begreift sich schlichtweg als  Künstler, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und Jesus wollte durch seinen grandiosen Auftritt am Sabbath damals nichts weniger erreichen als den Menschen ein neues Königreich aufzeigen, eine neue Welt, in der die Machtverhältnisse andere sein werden als man sie bisher kannte.

Amen.