Predigt Februar 2007

Queergottesdienst am Sonntag Quinquagesimae, den 18. Februar 2007

Predigttext: Lk 18, 31 – 43

Liebe Queergemeinde,
meine lieben Schwestern und Brüder!

(1) Helau und Alaaf! Aus dem Radio Karnevalsschlager und Stimmungsmusik, im Fernsehen Prunksitzungen und Büttenreden … Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht. Kein Zweifel: Die Narren haben Deutschland wieder fest im Griff, nicht zuletzt im katholischen Rheinland. – Nein, keine Sorge! Ich starte jetzt keine Büttenpredigt. Der Queergottesdienst bleibt faschingsfreie Zone. Während allerorten – vor allem in den katholischen Teilen unseres Landes – noch kräftig geschunkelt und gelacht, gefeiert und mit Kamelle geschmissen wird, hat für die evangelische Liturgie bereits das Vorfasten begonnen.

Und so nimmt uns der heutige Predigttext mit auf den Weg Jesu nach Jerusalem. „Es begab sich aber, als die Zeit erfüllt war, daß er hinweggenommen werden sollte, da wandte er sein Angesicht, stracks nach Jerusalem zu wandern“ – so hat Lukas an anderer Stelle geschrieben. Ein schneller Entschluß, ohne Zögern, ohne Wanken: So wirkt nach Luthers Übersetzung – anders als in der geglätteten Einheitsübersetzung – die Entscheidung Jesu, zum Paschafest nach Jerusalem zu pilgern.

(2) Was treibt ihn an? Die frühere Leben-Jesu-Forschung, die versucht hat, das Leben Jesu historisch zu rekonstruieren, hat lebhaft darüber diskutiert, warum Jesus überhaupt nach Jerusalem gezogen sei. Albert Schweitzer, der evangelische Theologe, Musiker und spätere Urwaldarzt, hat die damaligen Antwortversuche auf folgende Formel gebracht: Die einen lassen Jesus nach Jerusalem ziehen, weil er dort habe wirken wollen; die anderen, weil er in der Stadt habe sterben wollen.

Daß Jesus von der großen Gefahr, die in Jerusalem auf ihn wartete, überrascht worden sei, scheint jedenfalls unwahrscheinlich – so viel lassen die uns vorliegenden Texte vermuten. Jesus wollte auch in der Metropole des Landes, am Sitz des Tempels, predigen und seine Botschaft verkünden. Vielleicht wollte er ganz bewusst in der Hauptstadt das Volk zur Entscheidung rufen.

Welchen Weg Jesus nach Jerusalem genommen hat, läßt sich nicht mehr sicher rekonstruieren. Doch eine Station ist belegt: Jericho, eine der ältesten Städte der Welt. Die Stadt hatte große strategische Bedeutung als östlicher Zugang nach Juda und als Festung vor Jerusalem. Von hier führt eine sehr bekannte und äußerst belebte Straße nach Jerusalem hinauf. In diesen Tagen ist sie ganz besonders belebt. Denn das Paschafest naht. Und auch Jesus reiht sich ein in den Strom der Pilger, die bereits einige Tage vor dem höchsten Fest des Jahres nach Jerusalem unterwegs sind.

(3) Im heutigen Predigttext steht Jesus kurz vor Jericho, der letzten Station also auf seinem Weg nach Jerusalem. Er nutzt noch einmal die Gelegenheit, um seine Jünger vorzubereiten auf das, was sie in Jerusalem erwarten wird. Wir kennen das: Vor gewichtigen Entscheidungen oder vor kritischen Situationen, bei denen es darauf ankommt, daß alle zusammenhalten, werden die engsten Vertrauten zusammengetrommelt und auf eine gemeinsame Linie eingeschworen. Dies muß allerdings nicht immer zum gewünschten Ergebnis führen, wie die jüngsten politischen Entwicklungen in der Landespolitik seit Jahresbeginn es einmal mehr gezeigt haben.

Zum dritten Mal auf seiner Wanderung nach Jerusalem nimmt Jesus die Jünger beiseite: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.“

Wir müssen von einer gewaltigen Pilgermenge ausgehen, die sich in diesen Tagen zum Tempel auf den Weg macht. Schätzungen gehen von hundertfünfundzwanzigtausend Pilgern aus – eine gewaltige Zahl, wenn man bedenkt, daß Jerusalem damals nur etwas mehr als fünfzigtausend Einwohner zählte. In Jerusalem dürfte Jesus noch weitgehend unbekannt sein; sonst hätten die Autoritäten, die ihn ein paar Tage später verhaften ließen, nicht der Hilfe des Judas bedurft, der den Gesuchten durch einen Kuß erst kenntlich machen sollte. Unter den Pilgern – vor allem jenen aus Galiläa – hatte Jesus jedoch eine Menge Anhänger, die ihm dann auch einen triumphalen Einzug in Jerusalem bereiten sollten. Ihre Hosiannarufe sind bis heute sogar sprichwörtlich geworden.

Was erwarten nun die Jünger von den kommenden Tagen in Jerusalem? – …, daß Jesus in der Hauptstadt ebensolche aufsehenerregenden Volksaufläufe hervorrufen wird wie in seiner galiläischen Heimat? … daß er jetzt auch die Massen der Hauptstadt mobilisieren und damit seiner Botschaft zum endgültigen Durchbruch verhelfen wird? …, daß die Gottesherrschaft, von der er so oft gesprochen hat, jetzt, da ihre Wanderbewegung am religiösen Mittelpunkt – dem Tempel – angekommen ist, endlich anbrechen wird? Der messianologische Unterton, der in dem Jubel mitschwingt, als sie endlich das Tor von Jerusalem erreichen, könnte dafür sprechen: Hosianna, dem Sohne Davids. Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn. –  Vielleicht erwarten die Jünger aber auch, daß sie jetzt dafür belohnt werden für das, was sie in ihrer Heimat alles aufgegeben haben? – belohnt für die Mühen und Strapazen der mehrjährigen Wanderschaft.

Haben die Begeisterung und das Interesse, die Jesus bisher ausgelöst hat, den Blick der Jünger verklärt, so daß sie den in den nächsten Tagen sich dramatisch verschärfenden Konflikt überhaupt nicht wahrnehmen können? Glauben sie vielmehr, daß Jesus sich jetzt an die Spitze der Volksbewegung stellen und die Fremdherrschaft der Römer bezwingen wird? Jesus vereint sehr unterschiedliche Charaktere und auch politische Auffassungen in seinem Jüngerkreis, darunter auch Zeloten, eine Gruppe radikaler Widerstandskämpfer seiner Zeit, die nicht bereit waren, sich den Römern zu unterwerfen, und die ein neues jüdisches Reich erwarteten. Zumindest einige im Kreis um Jesus werden also durchaus mit recht handfesten Erwartungen Jerusalem entgegengesehen haben.

(4) Doch wovon spricht Jesus? Er werde den Heiden überantwortet, verspottet, mißhandelt und angespien werden, ja sogar gegeißelt und letztlich dann getötet werden. Das will so ganz und gar nicht zu dem passen, wie sie Jesus bisher erlebt haben: der machtvolle, selbstbewußte und unerschrockene Prediger, der die Massen mobilisiert und nicht davor zurückschreckt, Konventionen seiner Zeit zu brechen – ungeachtet dessen, daß die einflußreichen Kreise über ihn lästern und ihn verhöhnen – als Fresser und Säufer, als Freund der Zöllner und Dirnen.

Was will Jesus von ihnen? Warum macht er solch düstere Andeutungen? Nein, das kann doch nicht sein. Sollen die vergangenen drei Jahre ganz umsonst gewesen sein? Sollten sie sich in Jesus getäuscht haben; ihren Beruf, ihre Familie und ihre Heimat verlassen haben für nichts und wieder nichts? Waren sie einem Scharlatan aufgesessen, der die Menschen mit schönen Reden umgarnt, aber dann, wenn es darauf ankommt, scheitert? … und sein Scheitern dann auch noch verklärt, so als wolle er noch zu Lebzeiten bereits an seiner eigenen Legende stricken. Nein, es kann nicht sein, was nicht sein darf – heute wie damals.

Und so machen sie sich keine Mühe, Jesus zu verstehen. Sie vertrauen auf das, was sie sehen: einen erfolgreichen und charismatischen Wanderprediger, dem die Menschen zujubeln und der auch hier – im riesigen Pilgerstrom, der sich auf Jerusalem zubewegt, – die Menschen zu begeistern versteht. Verhaftung und Tod, nein davon wollen sie nichts hören, daran gibt es keinen Gedanken zu verschwenden. „Business as usual“ – und so geht es weiter, Jericho liegt vor der Tür. Auch hier gibt es eine Menge Leute, die Jesus voll Hoffnung, Interesse oder zumindest Neugier erwarten – so viele, daß Zachäus, der Jesus unbedingt sehen will, auf einen Baum klettern muß, um überhaupt einen Blick zu erhaschen.

(5) Die Passions- oder Fastenzeit, die vor uns liegt, lädt uns wiederum ein, den Weg Jesu nach Jerusalem mitzugehen. Die kommenden Wochen sind eine Aufforderung an uns, bewußter als sonst, über unseren Glauben und unser Leben nachzudenken. Was erwarten wir von Jesus? Was bedeutet Jesus für uns? Auf welche Weise lassen wir uns durch seine Botschaft und sein Leben herausfordern? Wie zeigt sich das in unserem Leben, in unserem Alltag, im Umgang mit unseren Mitmenschen? Welche Seiten der Botschaft Jesu blenden wir vielleicht auch aus? – … ganz bewußt, weil sie uns unbequem sind? Weil sie nicht in unser Bild passen, das wir uns von ihm gemacht haben? Weil sie die Routine unseres Alltags stören, in der wir uns bequem eingerichtet haben? In welcher Rolle finden wir uns am Kreuzweg Jesu wieder: trauernd und erschüttert oder enttäuscht und flüchtend oder verängstigt und leugnend oder gar gaffend und neugierig? –

Und wie sieht das bei uns als Queergemeinde aus? Verstehen wir Jesu Botschaft als heilsame Unruhe und stetige Herausforderung? Oder wollen wir uns nur in unserem Lebensstil bestätigen lassen? Evangelium, ja bitte – aber ohne Nebenwirkungen!? Suchen wir allein Bestätigung und Anerkennung? Oder sind wir auch bereit, uns selbst immer wieder von neuem zur Umkehr rufen zu lassen?

(6) Die Jünger wollen nur auf das vertrauen, was sie wirklich sehen – die begeisterte Zustimmung der Massen. Und so – glauben sie – wird es auch in Jerusalem weitergehen. So sehen die Jünger zwar, verstehen aber nicht: „Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.“

An dieser Stelle könnte der Text zu Ende sein. Ein abrupter Schnitt, ein offenes Ende. Fortsetzung folgt – pünktlich am nächsten Sonntag wie im Dauerbrenner „Lindenstraße“. Mit einem Unterschied: In diesem Fall wissen wir als langjährig erfahrene Kirchgänger und erprobte Bibelleser bereits, wie die Geschichte in Jerusalem ausgehen wird. Jesus wird mit seiner düsteren Prognose Recht behalten. Und die Jünger werden doch noch begreifen – aber erst nach Ostern.

(7) Doch für einen Abspann ist es heute noch zu früh. Der Predigttext geht weiter. Am Stadtrand von Jericho begegnet die Gruppe um Jesus einem Blinden, der durch Betteln seinen Lebensunterhalt verdient. Die Situation ist günstig angesichts der zahlreichen Pilger, die heute unterwegs sind. Auf den ersten Blick scheinen beide Geschichten nichts miteinander zu tun zu haben: die Jünger und der blinde Bettler. Immer wieder machen Menschen auf sich aufmerksam, wenn Jesus in der Nähe ist. Heute haben die Jünger andere Probleme. Sie wollen zügig nach Jerusalem, lieber schon gestern als morgen, damit sie bereits dort sind, wenn der große Pilgeransturm erst so richtig losbricht. Und so wollen sie den Bettler zum Schweigen bringen. Nein, heute geht es wirklich nicht.

Der Blinde kann zwar nicht sehen, aber er nimmt dafür die Geräusche und die Untertöne seiner Umgebung sehr viel intensiver wahr. Und er spürt, daß plötzlich Erregung in die Menschenmenge kommt. Irgendetwas geht vor sich. Das läßt ihm keine Ruhe, und er forscht nach, was da los ist. Als er erfährt, daß Jesus vorbeizieht, hält es ihn nicht mehr. Schon viel hat er von diesem Mann gehört, schließlich hat er einen günstigen Standort. Immer wieder begegnet er Reisenden, die nach Jerusalem wollen und die ihm von diesem Wanderprediger aus Galiläa berichtet haben. „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“, bricht es aus ihm heraus. Wenn ihm einer helfen kann, dann dieser Jesus.

Und Jesus hält tatsächlich an. Hartnäckigkeit zahlt sich in diesem Fall aus. Jesus geht auf den blinden Bettler zu, der auf sein Geheiß zu ihm geführt wird. Die Situation scheint eindeutig; um so mehr verwundert die Frage, die Jesus dem Blinden stellt: „Was willst du, daß ich für dich tun soll?“ Als ob das nicht klar wäre. Blindenspiele – wie wir sie zu Beginn unseres Gottesdienstes erlebt haben, oder auch das Geburtstagsspiel Topfschlagen – sind lustig, aber nur so lange, wie ich weiß, daß ich die Augenbinde auch wieder abnehmen kann. Dauerhaft blind zu sein, noch dazu in einer sozial derart ungeschützten Situation, wie sie zur Zeit Jesu mit solch einer Behinderung verbunden war, ist alles andere als ein Kinderspiel.

(8) Es macht gerade die Würde und die Freiheit des Menschen aus, daß dieser sich selbst bestimmen muß. Der Mensch ist zu selbstverantwortlichem Handeln fähig, zu einem Handeln, das über ein zweckorientiertes oder fremdgesteuertes Verhalten hinausgeht. Diese Würde darf dem Menschen nicht genommen werden.

Wer blind ist, befindet sich heute in einer anderen sozialen Situation als der blinde Bettler damals zur Zeit Jesu. Aber auch heute gibt es genügend andere Situationen – und vielleicht werden es momentan gerade wieder mehr –, in denen versucht wird, Menschen zu bevormunden, ihnen vorzuschreiben, wie sich zu verhalten haben oder eben auch nicht: Situationen und Lebensumstände, in denen Menschen vom Wohlverhalten ihrer Umgebung abhängig gemacht werden sollen – alles natürlich stets nur zu ihrem Besten –, in denen aber nicht gefragt wird, wie es den Betroffenen selber damit geht, welche Vorstellungen eines guten Lebens sie selbst haben.

Diese eigenen Wünsche auszusprechen, kann allerdings eine Herausforderung sein. Mitunter kann es ja auch sehr bequem sein, einfach so zu leben, wie andere es von mir erwarten – ohne groß Fragen zu stellen. Mit den Fragen wachsen stets auch der Zweifel und die Unsicherheit. Warum soll ich meine Situation verändern? Eigentlich geht es mir doch ganz gut.

Das Verhalten Jesu rührt an: Wie er den blinden Bettler anspricht und als Person ernst nimmt, ist von einer Aufrichtigkeit und Größe, die auch heute nicht an Beispielhaftigkeit verloren hat. Dabei macht er es dem Blinden nicht leicht. Er fordert ihn heraus, seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche in Worte zu fassen. Indem Jesus ihn auf diesen Weg ruft, bringt der blinde Bettler viel mehr zum Ausdruck als nur den bloßen Wunsch, von seiner leiblichen Krankheit geheilt zu werden: Er spricht seinen Glauben aus. Er bekennt vor den anderen, vor seiner Umgebung, auf was – auf wen – er sein Leben gründet.

Auch wir rufen in jedem Gottesdienst „Kyrie eleison. Herr, erbarme dich“ und wollen damit zum Ausdruck bringen, wer der eigentliche Herr der Welt, unserer Gemeinde, unseres Lebens ist. Sind wir uns des Ernstes dieses Bekenntnisses wirklich immer hinreichend bewußt? Wissen wir wirklich, was wir damit bekennen?

„Was willst du, daß ich für dich tun soll?“ – diese Frage richtet sich auch an uns. Wer schon einmal Exerzitien – Besinnungszeiten – mitgemacht hat, weiß, daß diese Frage eine der Schlüsselfragen ist. Was willst du? Was will ich? Was entspricht wirklich mir selbst? Was rührt mich heilsam an in meinem Inneren? Wie kann ich mir selber treu bleiben? – Nicht: Was wollen die anderen? Was erwarten die anderen von mir? Wie soll ich mich verhalten, damit ich durch meine Umgebung belohnt werde? Wo sollte ich besser schweigen, um nicht anzuecken?

(9) Jesus fordert den einzelnen oder die einzelne heraus, sich über sich selbst klar zu werden. Diese Authentizität in seinem Wesen, in seinen Taten und Worten hat er selber vorgelebt. Dies hat die Menschen seiner Zeit fasziniert – aber auch provoziert.

Wer bereits ein Coming-out durchlebt hat, der weiß, wie schwer es fallen kann, auf sich selbst zu schauen und zu sich selbst zu stehen. Nun könnten wir es uns einfach machen und den heutigen Predigttext durch die rosa Brille lesen: die sehenden, tatsächlich aber dann doch blinden, sich auf die Apostel berufenden Kirchenleitungen, die mal wieder nichts begriffen haben, auf der einen und die blinden, die ausgegrenzten, am Rande stehenden, um Anerkennung bettelnden, in Wirklichkeit aber sehr viel hell- und klarsichtigeren „Queers“ auf der anderen Seite. –

Provozierend – und zwar ganz bewußt für uns, nicht für die anderen! – wäre das Evangelium bei einer solchen Deutung nicht mehr. Überdies würden wir unsere Rolle als Queergemeinde letztlich nicht von uns selbst her bestimmen, sondern uns vorgeben lassen – in Abgrenzung von den anderen, für die wir nicht ins Kirchenbild passen, von den Kirchenleitungen, von wem auch immer …

Was willst du, daß ich für dich tun soll? – Diese Frage können und müssen wir selbst beantworten.  – Sicher, es gibt Menschen, die sich in einer Situation befinden, die der des blinden Bettlers ähnelt, und die das heutige Evangelium voll und ganz in dieser Rolle lesen und zu Recht auf sich beziehen dürfen. Vielleicht auch in unserer Gemeinschaft. Das soll keineswegs vergessen werden.

Aber: Ob eine solche Lesart die eigene Situation trifft, kann nur jeder und jede einzelne für sich selbst, ganz persönlich entscheiden. Diese Lesart aber kann nicht eine Queergemeinde – so meine Überzeugung – quasi kollektiv für sich beanspruchen. Dies wäre – so glaube ich – vermessen.

Wenn wir ehrlich zu uns selber sind, werden wir feststellen, daß es nicht nur ein Schwarz oder Weiß, ein Entweder-oder gibt: Wir haben zu Beginn des Gottesdienstes gesehen, daß auch wir selbst oft genug blind sind, auch wenn wir vermeintlich sehen: Wir fühlen uns im Recht und sind doch blind vor Wut, wir fühlen uns himmelhochjauchzend und sind doch blind vor Liebe, wir halten uns für fehlerlos und sind doch blind vor Eifersucht … Die Beispiele ließen sich noch beliebig fortsetzen.

„Vierzig Tage ohne“ – das meint nicht nur, auf lieb gewordene Annehmlichkeiten für ein paar Tage zu verzichten, auf Schokolade, Alkohol, Zigaretten, Fernsehen oder den Nachtisch nach dem Mittagessen. „Vierzig Tage ohne“ – das meint Umkehr: ohne rosa Brille, ohne beschönigende Selbstbespiegelung, ohne falsche Selbstüberheblichkeit. Sich zur Umkehr rufen zu lassen, dem schonungslosen Blick auf mich selbst nicht auszuweichen, ist eine gewaltige Herausforderung – jedes Jahr von neuem. Wir werden unser ganzes Leben lang nicht damit fertig. Dieser Weg der Umkehr kann und wird nicht allein gelingen – das wäre Selbsterlösung. Darum geht es nicht, wie Jesus deutlich: Nicht „Du selbst hast dir geholfen“ sagt er zu dem Geheilten, sondern „Dein Glaube hat dir geholfen.“. Wir bedürfen dafür des Erbarmens Gottes, das all unserem Mühen und Tun immer schon vorausgeht. Daher bekennen auch wir: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner.“

(10) Der Geheilte kann das, was er erfahren hat, nicht für sich behalten: „Er pries Gott“, schreibt Lukas. Und dieser Jubel, dieser Lobpreis ist ansteckend: „Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.“ Dies schmeckt nicht allen. Noch wird der Jubel geduldet. Doch schon kurze Zeit später, wird es anders sein. Als Jesus unter dem Jubel seiner Anhänger in Jerusalem einzieht, werden die Vertreter des religiösen Establishments versuchen, die Jünger zum Schweigen zu bringen. Der blinde Bettler und die Menschen, die Jesus nach Jerusalem  begleiten, nehmen bereits den Osterjubel der Erlösten vorweg. Doch dieser Jubel muß die Anfechtung der Ölbergstunde, den Schmerz des Karfreitags und die Hoffnungslosigkeit des Karsamstags durchstehen. Doch der Jubel, der die Nacht des Irrtums, des Zweifels, der Anfechtung und der Verwirrung durchschritten und durchlitten hat, wird um so mächtiger sein – kein Stein, kein Grab, keine verschlossene Tür wird ihn mehr zum Verstummen bringen können.

Diese Erfahrung wünsche ich auch uns als Queergemeinde. Feiern wir den Tod Jesu und seine Auferstehung, feiern wir als seine Gemeinde, als Gemeinschaft derer, die in der Taufe mit ihm begraben und auferweckt worden sind, damit auch unsere Auferstehung. Er selbst hat versprochen, bei uns zu sein – auch wenn Nacht und Dunkel, Blindheit und Finsternis über uns kommen. In dieser Gewißheit wollen wir uns in den kommenden Wochen auf den Weg Jesu nach Jerusalem einlassen – auf einen Weg, der uns herausfordert und uns verunsichert, der durch Höhen und Tiefen führt und der unser Leben verändern wird. Damit dieser Weg gelingt, wollen wir an diesem Abend gemeinsam bitten:

Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.

  • Bleibe bei uns und bei deiner ganzen Kirche.
  • Bleibe bei uns am Abend dieses Tages, am Abend unseres Lebens, am Abend der Welt.
  • Bleibe bei uns, wenn über uns kommt die Nacht der Trübsal und der Angst, die Nacht des Zweifels und der Anfechtung, die Nacht der Verwirrung und der Sünde, die Nacht des bitteren Todes.
  • Bleibe bei uns mit deiner Gnade und Güte, mit deinem Trost und Segen.
  • Bleibe bei uns in deinem Wort und Sakrament.
  • Beibe bei uns und bei allen deinen Gläubigen in Zeit und Ewigkeit.
  • Herr, bleibe uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.

Amen