Predigt August 2011 (CSD-Gottesdienst)

CSD-Gottesdienst am 07.08.2011

Predigt von Silvia Jühne zu Markus 10, 17-27

“Gottes Menschen: queer, bunt, liebenswert!”

Predigttext Markus 12, 28-34

28 Da kam ein Schriftgelehrter und hörte ihnen eine Weile zu. Als er den Eindruck hatte, die Antworten, die Jesus gab, seien richtig und wahr, stellte er selbst auch eine Frage: „Es gibt so viele Regeln und Ordnungen, die Gott uns vorgeschrieben hat. Welche ist die wichtigste?“

29 „Höre, Israel, es gibt nur den einen Gott“, antwortete Jesus mit einem Wort des Alten Testaments.

30 „Und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit allen deinen Gedanken und mit deiner ganzen Kraft.

31 Das andere: Du sollst den Menschen neben dir lieben wie dich selbst. Es gibt kein wichtigeres Gebot.“

32 Der Schriftgelehrte wiederholte: „Das ist wahr. Das hast du gut gesagt. Einer ist Gott und keiner neben ihm.

33 Ihn lieben mit ganzem Herzen, mit allen Kräften des Geistes und der Seele, den Mitmenschen aber lieben wie sich selbst, das ist besser als alle Opfer im Tempel.“

34 Als Jesus sah, dass er vernünftig antwortete, fügte er hinzu: „Du bist nicht weit vom Reich Gottes.“ Und niemand hatte von da an den Mut, ihm weiter Fragen zu stellen.       Übersetzung von Jörg Zink (2000)

 

Predigt

Gnade sei mit Euch und Friede von dem der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist sicherlich nicht ungewöhnlich in einem Gottesdienst zum Christopher-Street-Day über die Liebe zu sprechen. Und es ist sicherlich auch nicht ungewöhnlich in einem Gottesdienst überhaupt über die Liebe zu sprechen. Aber: Das, laut Jesus, höchste Gebot, also das Doppelgebot der Liebe mit den Lebenszusammenhänge von Lesben, Schwulen und Queers zusammen zu bringen, ist für viele Ohren sicher ungewohnt. Dabei könnte ich mir gut vorstellen, wäre Jesus an diesem Wochenende in Nürnberg gewesen, hätte er bestimmt einmal auf dem Jakobsplatz vorbei geschaut. Jesus selbst hat uns mit dem Liebesgebot ja einen ganz neuen Lebensstil gezeigt und vorgelebt. Dabei können wir das Gebot als Handlungsanweisung oder Orientierungshilfe für das Leben verstehen. Aber es ist selbst eingebettet in die grundsätzliche Beziehung zwischen Gott und uns, seinen Menschen. Er hat uns in dieser großen Buntheit und Vielfalt geschaffen. Ja, Gott ist die Quelle des Lebens, auch des Lebens von jedem und jeder einzelnen von uns. So können wir zunächst einmal als Von-Gott-Geliebte ins Leben hinein gehen. Mit einem grundsätzlichen großen "Ja" Gottes, das uns mitgegeben wird.

Ein Leben in Orientierung am Doppelgebot der Liebe, ist aber eine konsequente Antwort auf s Geschenk. Genauso benennt Jesus dann auch das Liebesgebot als das wichtigste Gebot für unser Leben.

Für mich heute und hier im Rahmen des CSD-Gottesdienst bedeutet das: Egal ob Du selbst Hetero oder Homo, Bi oder Transgender, Alleinerziehend oder Single, Jung oder Alt bist und egal ob Dein Nächster Hetero, Homo, Bi, Transgender, Alleinerziehend, Single, Jung oder Alt ist - Jesus sagt: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst. Und diese Liebe unter uns Menschen steht ganz klar in Verbindung und Wechselwirkung mit unserer Liebe und unserer Beziehung zu Gott. Unsere Beziehung zu Gott, unser Glaube spiegelt sich wieder in dem, wie wir mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen umgehen.

Mit dem Doppelgebot der Liebe betont Jesus: Es gibt keine Wertunterschiede zwischen den Menschen. Wir sind alle gleich wertvoll, denn als Kinder Gottes sind wir seine Geschöpfe. Und als Menschenkinder haben wir alle gleichermaßen unsere Grenzen und Begrenzungen. Keiner ist perfekt und trotzdem haben wir alle denselben Auftrag: Unsere Nächsten zu lieben wie uns selbst. Und die Kraft dazu gewinnen wir aus der Liebe, die wir von Gott bekommen und die wir Gott wieder entgegen bringen.

Doch was bedeutet das ganz praktisch? Und welche Folgen hat es? Ich finde, dass wir die Liebe an vielen Stellen in unserem Leben am Werk sehen können und auch erkennen können, wie wichtig sie ist. Dazu hilft es jedoch, dass man sich ab und zu mal die Zeit nimmt, das eigene Leben zu betrachten und darüber nachzudenken. Gerade im Leben von Lesben, Schwulen und Queers gibt es diese Phasen, in denen das Nachdenken über das eigene Leben ganz wichtig gewesen ist, und wo die Liebe eine große Rolle hat, um den Sinn des Lebens zu finden - nämlich im Coming-Out. Zwei Coming-Out-Geschichten haben wir am Anfang des Gottesdienstes gehört. Und ist es Euch, liebe Schwestern und Brüder, dabei nicht auch aufgefallen? Wenn die lesbische Frau und der schwule Mann nicht gelernt hätten, sich zu lieben, d.h. sich so anzunehmen, wie sie sind, hätten sie nicht zu diesem ehrlichen und authentischen Weg in ihrem Leben gefunden.

Diese Liebe zu sich selbst, diese Selbstannahme, haben sie aber nicht aus sich selbst heraus gewinnen können. Bei beiden hat es Anstöße von außen, ja auch die Liebe von anderen gebraucht. Die lesbische Frau hat in Gott ihr Gegenüber gehabt, hat sich von ihm geliebt und angenommen gefühlt. Hat sich im Gebet Gott völlig anvertraut und genau da dann auch sich selbst gefunden, sich selbst ganz ehrlich wahrnehmen können.

Der schwule Mann hat in einer christlichen Gemeinschaft erfahren, dass er angenommen und akzeptiert wird - auch mit seiner Lebensform. In der respektvollen und akzeptierenden Zuwendung durch andere Menschen konnte er lernen, dass er so in Ordnung ist wie er ist - auch als schwuler Mann. Manchmal finden wir erst durch die Liebe der anderen hindurch zur Liebe zu uns selbst.

Das Coming-Out ist oft ein schmerzhafter und schwieriger Prozess. Denn man geht einen Weg trotz gesellschaftlicher Vorurteile und Diskriminierungen. Und als christlicher Mensch auch gegen alle kirchlichen Verurteilungen von Homosexualität, die es leider bis heute noch gibt.

Der Weg, sich selbst so anzunehmen wie man ist, und auch andere so anzunehmen wie sie sind, ist nicht unbedingt einfach. Die Gesellschaft, die Familie aus der man kommt, die Kollegen auf der Arbeit, der Freundeskreis - sie alle werden im Coming-Out mit einer neuen Seite eines Menschen konfrontiert, den sie eigentlich zu kennen glaubten. Ob lesbische Frau, schwuler Mann oder auch Trans-Frau oder -Mann - es ist klar: hier verlässt ein Mensch den Weg des gesellschaftlichen Mainstream. Und solch eine Entscheidung trifft keiner leichtfertig. Da stecken innere Kämpfe und Entwicklungen dahinter, die im Ergebnis dazu führen, das man akzeptiert: Ja, so bin ich. Ja, ich bin schwul oder lesbisch oder …. Viele von uns kennen diese schwierigen Prozesse. Im Rückblick erscheinen die Wege oft ganz logisch und nach einem gut gelaufenen Coming-Out wirken sie erfolgreich und gut. Aber wenn man auf dem Weg ist, ist es oft sehr schwer.

Manche haben es lange verdrängt, dass die eigenen Beziehungssehnsüchte nicht in den sog. "normalen" Bahnen verlaufen. Bei anderen steht am Anfang des Weges hin zum Coming Out nur ein dumpfes Gefühl, dass irgendwie diese sog. "normalen" Beziehungsmuster für einen selbst nicht passen.

Irgendwann gerät man dann entweder zufällig oder auch getrieben durch die ewige Unzufriedenheit an einen Zeitungsartikel, ein Buch oder einen Menschen, wo man mit Erfahrungen von Lesben, Schwulen oder Queers konfrontiert wird. Es gibt einen Moment des Fasziniert- und vielleicht sogar Begeistert-Seins. Aber es gibt bei manchen auch ein Erschrecken: Wie, so soll ich auch sein?

Eine Sehnsucht, eine Ahnung bleibt zurück, dass diese Geschichten irgendetwas mit einem selbst zu tun haben. Verdrängung, mangelnde Selbstachtung, aber auch Angst vor Diskriminierung bis hin zum Job-Verlust wie z.B. in der katholischen Kirche, lassen die einzelnen zögern - manche sogar sehr lange.

Aber in der ersten Coming-Out-Geschichte kam ja schon die alte biblische Weisheit zur Sprache: "Alles Verborgene wird offenbar werden!" Verdrängung funktioniert eben auf Dauer nicht. Entweder man ist ständig unzufrieden oder es entstehen körperliche Beschwerden. Das Innere, das, was in unserer Seele angelegt ist, was unsere Identität, den Kern unserer Persönlichkeit ausmacht, das lässt sich auf Dauer nur um den Preis von Verkrümmungen verdrängen.

Ich bin der Ansicht, dass das, was in unserem Kern, unserer Seele angelegt ist, Gottes gute Schöpfungsgabe ist. Das zu entdecken, zu erkennen und anzunehmen ist nur selten bequem - gerade Homosexuelle und Queers können davon ein Lied singen. Und doch ist es Gottes Gabe, mit der er uns begabt und seine Liebe gezeigt hat. Wie sollten wir voneinander verlangen können, dass wir diese Schöpfungsgabe nicht leben?

Und so ist der weitere Weg des Coming-Out ein Weg, auf denen Lesben, Schwule und Queers lernen, zu sich zu stehen. Dazu zu stehen, wie Gott sie gemeint hat. Sich zu trauen, diese Gabe aus Gottes Liebe in ihrem Leben zum Leuchten zu bringen. Auch wenn das allgemein-gesellschaftlich nicht so akzeptiert ist.

Denn das ist ja dann der nächste Schritt. Coming-Out heißt erst einmal zu lernen, zu sich selbst zu stehen, sich selbst zu lieben. Und dann geht es darum, ehrlich zu anderen zu sein. Das ist meines Erachtens ebenfalls ein Akt der Liebe: ich zeige dem anderen ehrlich und offen, wer und was ich bin. Dabei mache ich mich verletzlich und hoffe darauf, dass mein Gegenüber mich so annimmt, wie ich bin. Manche Queers haben Glück in ihrem Coming-Out und begegnen vielen wohlwollenden und liebevollen Menschen. Andere erfahren Ablehnung. Auch in unseren Kirchen tun sich einige der Brüder und Schwestern sehr schwer, aus dem Doppelgebot der Liebe heraus, Lesben, Schwule und Queers so anzunehmen, wie sie sind. Besonders schwierig finde ich es, wenn manche meinen, sie könnten Menschen von ihrer Homosexualität "heilen". Faktisch geht es dann darum, sie wieder zurück in die Situation der Verdrängung zu führen. Das kann sehr schlimme Folgen haben. Und mir ist ehrlich nicht ersichtlich, was das mit dem Liebesgebot zu tun haben könnte.

Was ich verstehen kann ist, dass es eben schwer ist, sich selbst und den Nächsten so zu lieben und anzunehmen, wie er ist - besonders dann, wenn mir seine Lebensform fremd ist. Doch auch wenn es schwer fällt: Es ist nicht nur das wichtigste Gebot, wie Jesus sagte, sondern er wusste auch, dass es eines der wichtigsten Dinge ist, um zu einem ehrlichen Leben zu kommen. Nichts ist wichtiger als diesen Weg zu finden. Denn darauf gründet das Gefühl, dass mein Leben sinnvoll ist.

Aber das gilt natürlich nicht nur für Lesben, Schwule und Queers. Sich selbst zu finden und anzunehmen ist eine Aufgabe für alle Menschen. Da stößt natürlich jeder an seine ganz eigenen Grenzen. Nehmen wir zum Beispiel die drei Charaktere, die das Doppelgebot der Liebe selbst anspricht, als Typen. Da wäre:

  • Die Egoistin: Sie hat es bestimmt nicht schwer, sich selbst zu lieben. Aber wie steht es mit den Menschen um sie herum oder gar mit fremden Menschen, die sie eigentlich gar nicht interessieren? Und wie steht es um ihre Beziehung zu Gott? Interessiert sich eine Egoistin überhaupt für die tieferen Sinnfragen des Lebens und oder gar für den Glauben?
  • Der Altruist: Er hat es bestimmt nicht schwer, sich um andere Menschen zu kümmern, sich ihnen liebevoll zuzuwenden und ihnen in jeder Lebenslage zu helfen bis hin zur Selbstaufgabe. Vermutlich wird er dies auch als gutes Werk im Auftrag Gottes verstehen, der uns ja dazu angehalten hat, unseren Nächsten zu lieben. Aber wie steht es bei ihm um die Achtung vor sich selbst? Kann er sich überhaupt mit sich selbst beschäftigen oder hat er vielleicht Angst davor? Manche Altruisten opfern sich sogar bis hin zur Gesundheitsgefährdung für andere auf. Wo bleibt da die Selbstliebe? Warum achtet sich jemand selbst so gering? - Und
  • Die Gläubige: Sie hat es bestimmt gar nicht schwer, Gott zu lieben und für ihn alles zu tun. Die Nächstenliebe kann da bestimmt auch dazu gehören. Für Gott ist sie bereit, alles zu tun, viele Opfer zu bringen - seien es Geldspenden für irgendein Projekt, sei es Zeit für das Lesen in der Bibel und das Gebet oder für ehrenamtliches Engagement in irgendeinem religiösen Kreis. Aber wie geht sie mit den Nächsten zu Hause um? Ist sie so stark ehrenamtlich engagiert, dass ihre Familie daheim ihn kaum noch etwas von ihr hat? Und gönnt sie sich selbst noch Zeit und Ruhe für sich?

Irgendetwas von den drei Typen hat wahrscheinlich jede und jeden von uns angesprochen. Grenzen haben wir natürlich alle. Deshalb ist es unbedingt wichtig, dass wir mit uns selbst gnädig bleiben.

Das Doppelgebot der Liebe also ist leichter gesagt als getan. Eine vernünftige Anleitung zu einem zufriedenen und Gott wohlgefälligen Leben ist es allemal. Aber es im Alltag mit Leben zu füllen, wird immer wieder neu eine Herausforderung sein. Lesben, Schwule und Queers wissen das nur zu gut. Denn sie müssen sich in jedem neuen Lebenszusammenhang wieder besonders der Herausforderung stellen. Das Coming-Out ist ja nie vorbei. Immer wieder lernt man neue Menschen kennen, die noch nicht wissen, dass man nicht dem Mainstream der Lebensformen angehört. Und dennoch: Auch für Lesben, Schwule und Queers ist es wichtig, immer wieder zu sich zu stehen und ehrlich zu bleiben. Der Christopher-Street-Day ist dabei alljährlich immer wieder ein wichtiger Ort. Und da ist es auch gut so, dass wir in diesem Kontext immer auch Gottesdienst miteinander feiern.

Denn das macht deutlich: Wir brauchen die Kraft nicht aus uns selbst heraus gewinnen. Wir dürfen uns als von Gott Geliebte verstehen. Und daraus wächst dann die Kraft, die Liebe auch in unsere Welt zu tragen. Gemeinsam mit anderen. - Lasst uns dabei gnädig mit uns selbst bleiben. Und lasst uns trotzdem weiter diesen Weg mit all seinen Herausforderungen gehen! Das schenke Gott uns allen in seiner unendlichen Liebe!

Amen.