Predigt Januar 2014

Queergottesdienst am 19.01.2014, St. Johanniskirche Nürnberg

Predigt zu Markus 4, 15-31
Der Sturm auf dem See

Liebe Queergemeinde,

als Johannes, Markus und ich bei Tee und Gebäck zur Vorbereitung des heutigen Gottesdienstes gemütlich beisammen sassen, und wir uns den Evangeliumstext vorgelesen haben, stach uns bei dem Text ein Wort ins Auge: "Er sagte zu ihnen: wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren..."

In meiner Jugend sprach man noch von uns Schwulen, wir seien "vom anderen Ufer"; dies war wohl eine der eher wohlgesonneneren Umschreibungen für einen Schwulen in einer Zeit, als Schwulsein noch strafbar war.

Selbstverständlich wollte der Evangelist Markus nicht umschreiben, dass Jesus und seine Jünger sich auf dem Weg in ein schwules Leben machen wollten - die Wortgleichheit ist wohl eher zufällig. Trotzdem kann ich in dem Text, auch vom Inhalt her, Parallelen von einem jungen Mann, der sein Schwulsein entdeckt, finden. - Vielleicht auch das ein Zufall. Als wir drei uns mit dem Text beschäftigt haben, da kamen wir mehr und mehr darüber ins Plaudern, wie bei jedem von uns das schwule Coming out war, was sich innerlich wie äusserlich in dieser Zeit abspielte, und  - hier sind wir wieder beim Evangeliumstext - welchen unerwarteten Stürmen man in dieser Lebensphase ausgesetzt ist, und wie es hier auch ganz stark um das Thema "Gottvertrauen" geht.

Dies möchte ich zum Anlass nehmen, heute in unserem Queergottesdienst einmal ein Thema zu behandeln, welches für uns queere Menschen eine zentrale Bedeutung hat. Schliesslich hat jede / jeder von uns durch diesen Prozess eine stürmische Zeit hinter sich, und manch einer vielleicht sogar noch vor sich. Eigentlich ist ja das Coming out ein immerwährender Prozess im Leben eines queeren Menschen, welcher nie wirklich ganz abgeschlossen sein kann; denn das würde ja bedeuten, dass man vollkommen ausgeglichen und jeden Aspekt in seiner Persönlichkeit ohne Abstriche liebevoll annehmen kann.

Wie ist das denn für ein Kind, einen Pubertierenden, einen jungen Erwachsenen, der tief im Inneren Fragen hat, die er keinem Menschen stellen kann? Fragen wie: "Warum zieht es mich zu einem Mann hin?" "Stimmt etwas mit mir nicht?" "Kann man das behandeln?" "Kann ich das meinen Eltern, meiner Familie, meinen Mitschülern bzw. Kollegen zumuten?" "Hat am Ende schon jemand etwas davon bemerkt?" "Bin ich jetzt auch so einer, wie der ortsbekannte schwule Franz, über den alle lachen?" "Wie ist denn ein Leben als Schwuler?" "Wie, wo, und mit wem kann ich meine Sexualität ausleben?" "Wie finde ich einen Partner?" "Warum ich". Viele, viele quälende Fragen, und keine Antworten. Wie ein aufkommender Sturm auf dem See Genezareth. Und keine Rettung in Sicht, ganz im Gegenteil: der Retter sitzt hinten drin und schläft, und man droht, unterzugehen.  Bis eines Tages, die Wahrheit auf den Tisch kommt, die gefürchtete Bombe platzt; bei dem einen durch eine Postkarte vom Verehrer, die die Mutter beim Aufräumen entdeckt, beim anderen, indem er allen Mut zusammenfasst und zu seinen Eltern sagt: "Wir müssen mal reden", und beim anderen vielleicht, indem die Nachbarin über den Balkon der Mutter zuruft: "Frau Schulze, haben Sie schon gehört, in welchen Bars sich Ihr  Sohn die letzte Zeit immer rumtreibt - die ganze Nachbarschaft redet ja schon darüber". Manch einer lässt auch schon mal bewusst ein schwules Magazin im Wohnzimmer liegen, damit er endlich mal darauf angesprochen werden muss.

Wenn dann endlich die Katze aus dem Sack ist, geht die eigentliche Arbeit ja erst richtig los! Weil dann kommen in der Regel Vorwürfe: entweder an den Betreffenden selber, wie er so was denn der ganzen Familie antun kann, oder, noch verdrehter: die Eltern machen sich selber Vorwürfe, sie hätten in der Erziehung etwas falsch gemacht. Dann ist das schlechte Gewissen auf beiden Seiten erst recht am Rotieren. Und dann geht’s weiter: wie sag ich es in der Schule, in der Uni, oder am Arbeitsplatz, im Freundeskreis. Und, wem sag ich es überhaupt, für wen spielt so etwas überhaupt eine Rolle?

Sind dann endlich klare Verhältnisse geschaffen, und das gesamte Umfeld hat es akzeptiert, dass man wirklich schwul ist, und es wahrscheinlich auch ein ganzes Leben lang bleiben wird, dann wird es ja noch spannender: dann muss man das Schwulsein in das Leben einfügen; Partnersuche, Freundeskreis, auch so Fragen wie: muss jetzt alles in meinem Leben schwul sein? Die Freunde, der Friseur (der ist es ja sowieso meistens schon), brauch ich jetzt einen schwulen Hausarzt, Rechtsanwalt, Reisebüro, Apotheke - in den Bereichen dürfte es gewöhnlich keine Schwierigkeit geben, geeignete Adressen zu finden. Aber eine schwule Autowerkstatt, eine schwule Metzgerei? Und wieder kommen neue Fragen: jetzt habe ich z.B. endlich den schwulen Wasserinstallateur gefunden, aber ist der jetzt deswegen auch besser für mich, nur weil er schwul ist? Sind meine schwulen Freunde meine besseren Freunde? Wie behandeln wir Schwule uns gegenseitig? Sind wir wirklich immer solidarisch miteinander im Umgang? Grenzen wir uns am Ende doch wieder gegenseitig aus und bilden verfeindete Untergruppen, weil der eine lieber den männlich-dominanten Lederfetisch lebt und der andere sich lieber in Samt und Seide kleidet? Wie gross ist bei uns Toleranz geschrieben, wenn wir sie nicht für uns beanspruchen wollen, sondern, wenn wir sie anderen Menschen zeigen sollten? Ich finde doch, ein aufgeklärter queerer Mensch sollte sich gerade diese Fragen stellen, um schliesslich dem Ziel eines erfüllten Coming outs doch wieder einen kleinen Schritt  näher zu kommen. Und, natürlich ganz wichtig: auch mal einen aufkommenden Sturm aushalten, den unser Beschützer liegt zwar hinten drin und schläft, aber er hält trotzdem immer seine schützende Hand über uns.

Amen.