Predigt Oktober 2010
Queergottesdienst am 17. Oktober 2010
Thema: Erntedank
Predigt zu Matthäus 6,19-23
Liebe Queergemeinde!
Ich kann mich daran erinnern, dass folgende Meldung durch die Zeitung ging: Im Keller eines indischen Regierungsgebäudes fand man in halb verrotteten Koffern Diamanten und Schmuckstücke in einem geschätzten Wert von 800 Millionen Mark. Es handelt sich um den Schatz eines längst verstorbenen Maharadschas.
Solche Meldungen sind selten. Häufiger ist in der Zeitung zu lesen, dass wieder einmal in ein Einfamilienhaus eingebrochen wurde und Wertsachen im Wert von zigtausend Euro gestohlen wurden.
„Sammelt euch nicht Schätze!“ Zu diesen Zeitungsmeldungen passt dieses Bibelwort. Aber passt es zu uns? Passt es zu einem unter uns, der sich von Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg bedroht sieht? Passt es zu lesbisch-schwulen Senioren nach arbeitsreichem Leben, die nun mit wenig Geld auskommen müssen und nur eine kleine Rente beziehen? Passt es zu einer Frau, die wenig verdient und sich gerade von ihrer Freundin getrennt hat und jetzt eine eigene Wohnung suchen muss? „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln!“ – Können diese Menschen mit dieser Aufforderung irgendetwas anfangen? Muss dieser Satz nicht wie Hohn in ihren Ohren klingen?
Es ist richtig: Sie alle können keine Schätze sammeln. Aber wenn sie es könnten, würden sie es nicht doch tun? Würden sie nicht versuchen, sich ein finanzielles Polster zu bilden? Würden sie nicht den einen oder anderen Wertgegenstand anschaffen? Wer unter uns, der dazu in der Lage ist, tut das nicht? Ist dieser Sammeltrieb nicht etwas Urmenschliches? Was hat Jesus dagegen, dass wir diesen Sammeltrieb nachgehen?
Er sagt es selber: Die Schätze der Erde sind allesamt vergänglich. Sie können verbrennen, sie können zerbrechen, sie können verloren gehen. Sie können durch Geldentwertung aufgezehrt, sie können gestohlen werden. – Wir sammeln sie um ein gewisses Polster zu haben. Wir sammeln sie, um der Zukunft in Ruhe entgegensehen zu können. Aber je mehr Werte wir ansammeln, desto mehr versetzen sie uns in Unruhe. Je mehr Schätze wir um uns herum anhäufen, desto größer wird die Angst: die Angst, sie durch irgendein Unglück zu verlieren, sie durch irgendwelche Machenschaften los zu werden (siehe Finanz- und Wirtschaftskrise). Je größer der Besitz, desto größer die Angst um diesen Besitz. Vor dieser Unruhe, vor dieser Angst will Jesus uns bewahren.
„Sammelt euch aber Schätze im Himmel!“, sagt Jesus. Schätze im Himmel – was ist damit gemeint? Ist damit gemeint, dass man, statt an sich selbst zu denken, seinem Mitmenschen etwas Gutes tun soll? Ist damit gemeint, dass das Menschliche Vorrang vor dem Materiellen haben soll? Ist damit gemeint, dass man sich durch Taten der Nächstenliebe einen „Schatz im Himmel“, also eine Art himmlisches Bankguthaben, erwerben soll?
So kann man Jesus verstehen. Aber es passt irgendwie nicht so recht zu dem, was wir sonst von Jesus gewohnt sind. Eine andere Deutung passt eher zu Jesus, wie wir ihn kennen. Nach dieser anderen Deutung meint Jesus mit dem „Schatz im Himmel“ die Tatsache, dass Gott uns liebt. Gottes freundliche Zuwendung, Gottes Güte, Gottes Barmherzigkeit: das wäre dann der himmlische Reichtum unseres Lebens. Nicht unsere Menschenliebe, sondern Gottes Menschenliebe macht unser Leben zu einem reichen Leben. Diesen Reichtum kann uns niemand nehmen. Dieser Schatz ist nicht kaputtzukriegen. Gott bleibt uns unerschütterlich zugewandt.
Das bringt Ruhe in unser ruheloses Leben. Das ist wie eine Decke, die uns umhüllt, die uns warm zudeckt. Gottes Zuwendung zu uns macht unser Leben reich, und diesen Reichtum kann uns niemand wegnehmen, dieser Schatz verliert nie seinen Wert.
Was aber bedeutet nun, dass wir uns diesen Schatz sammeln sollen? Es bedeutet, dass wir die Zuwendung Gottes bewusst in unser Blickfeld rücken sollen. Darum gibt es das Erntedankfest! Es bestätigt nur, dass es oft ganz einfache Sachen sind, in denen uns die Freundlichkeit Gottes begegnet. Blicken wir am Erntedankfest zurück! Sammeln wir heute – aber nicht nur heute! – Beweise, die für Gottes Güte sprechen! Dafür, dass wir einen Schatz im Himmel haben! Entdecken wir Bestandteile dieses Schatzes, entdecken wir Beispiele für die Zuwendung Gottes in unserem Leben!
Den Reichtum des Himmels im eigenen Leben zu entdecken, dazu braucht es eine klaren Blick. Es ist ähnlich wie beim Pilze suchen: Man braucht dafür ein gutes Auge, sonst findet man nichts.
„Das Auge ist das Licht des Leibes“, sagt Jesus, „wenn aber dein Auge trübe ist, dann wird es in deinem ganzen Leib finster sein“. Er spricht damit einen Sachverhalt an, den man häufig beobachten kann: Ein Mensch, der den Reichtum des Himmels in seinem Leben nicht erkennt, dessen Auge dafür getrübt ist, der wird alles grau in grau sehen.
Dass er im Gegensatz zu vielen Menschen in der Welt ausreichend zu essen hat, wird er mit der Bemerkung quittieren, dass alles so teuer sei. Dass er gute Freunde innerhalb und außerhalb der Szene hat, wird er mit der Klage beantworten, dass sie sich viel zu selten sehen ließen. Dass er gut verdient, wird er mit dem Hinweis ablehnen, dass einem nichts geschenkt werde und als Homosexueller müsse man sich außerdem stärker gegenüber den anderen beweisen. Wenn man ihm sagt, dass er gesund ist, wird er seine angeblichen Leiden aufzählen.
Der ganze Mensch ist eine einzige Leidensmiene, und zwar deshalb, weil er kein Auge für den Reichtum Gottes in seinem Leben hat. Er kann davon nichts finden – nicht, weil es davon nichts gäbe in seinem Leben, sondern weil sein Auge dafür getrübt ist.
Er wird deshalb auch keine Dankbarkeit entwickeln können. Er wird nicht teilen, er wird nichts hergeben können. Deswegen sieht er vielleicht auch nicht denjenigen, der mitten in seinem Coming-out steckt und Hilfe braucht.
Ganz anders der Mensch, der offen ist für den Reichtum des Himmels in seinem Leben: „Wenn dein Auge klar ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“. Diese Menschen sehen die Ernte dieses Jahres und entdecken darin ein Zeichen der Hoffnung: der Hoffnung, dass Gott das Leben auf dieser Erde erhalten will. Sie sehen die Ernte dieses Jahres und denken dabei an all das Gute, das sie in diesem Jahr geerntet haben auf den verschiedenen Feldern ihres Lebens.
Diese Menschen sehen die Welt nicht unkritisch. Sie kennen auch die Schattenseiten des Lebens: die Diskriminierung von Minderheiten, wie wir es sind, die Krankheit, die Trauer, den Tod.
Aber weil sie so viel Güte Gottes erlebt haben, darum glauben sie, dass auch in allem Schweren Gottes Liebe da ist. Sie sehen die Schatten, aber sie übersehen darüber nicht das Licht. Sie nehmen den Schmerz wahr, aber sie registrieren auch die Freude. Das Erntedankfest feiern sie gerne, denn sie wissen, wie viel sie Gott verdanken.
Darum können diese Menschen auch teilen. Sie können hergeben. Sie haben ja nicht das Gefühl, ständig zu kurz zu kommen. Sie leben viel mehr in dem Bewusstsein, reich beschenkt zu werden. Darum müssen sie sich nicht an materiellen Dingen festklammern oder Angst vorm Älterwerden und damit in der Szene weniger angenommen zu werden. Den Zusammenhang zwischen Geliebtwerden und Hergebenkönnen sieht auch Paulus. Im 2. Brief an die Christenheit in Korinth schreibt er: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“.
Solche Menschen wissen: Gott wird mir geben, was ich brauche. So können sie teilen, ohne das groß als Opfer zu bezeichnen. Sie halten es mit Dietrich Bonhoeffer, der einmal geschrieben hat: „Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche“.
Sammeln wir also das Richtige! Sammeln wir Beweise für die Güte Gottes! Für seine Liebe und Treue! Dann werden wir Anlass haben, Gott zu danken, und nicht nur am Erntedankfest.
Amen